P E P A S A L A S V I L A R
Pepa Salas Vilar - Aves Migratorias – Zugunruhe
Eisfabrik | Hannover | 9. Oktober 2015 – 1. November 2015[i]
Welche Farbe hat der Ton „A“? Wie schmeckt die „9“ und welche Form hat das Gefühl „Zufriedenheit“?
Für die meisten hat der Ton keine Farbe. Die Zahl neun keinen Geschmack und Gefühle keine sichtbaren Formen. Für Pepa Salas Vilar ist das anders. Sie ist Synästhetikerin. αἰσθάνομαι – heißt auf Griechisch: wahrnehmen, verstehen, erkennen. Die Vorsilbe „συν“ bedeutet zugleich, gemeinsam mit, zusammen. Synästhetiker nehmen Realitäten mit mehreren Sinnen gleichzeitig wahr, schmecken Gegenstände, die sie sehen, hören Töne und er-leben zugleich eine bestimmte Farbe, sehen Gefühle als Figuren und Mustern. Für sie ganz normal. Und bis sie sieben-undzwanzig Jahre alt war, heute ist Pepa Salas Vilar 39 Jahre alt, dachte sie, alle nähmen die Welt so viel-sinnig wahr wie sie selbst. Dass ihre Doktorarbeit an der Universität Granada sich mit Synästhesie und Kunst, den Arten der Wahrnehmung, den Arten des Schaffens beschäftigt, kommt nicht von ungefähr.
Wer das weiß und versucht zu imaginieren und dann auf die wie collagiert wirkenden Arbeiten schaut, der kann sich eine barocke Sinnenfülle, eine sinnliche Explosion, eine multimediale Inszenierung, ein Feuerwerksspektakel mit Musik vor-stellen.
Die Farbspektren in vielen Bildern, die Kombination anscheinend unzusammenhängender Motive werden lebendig und beleben den neutralen Hintergrund, erweitern das Augenscheinliche, ziehen die Flachware ins Dreidimensionale. Es kommt nicht von ungefähr, dass die Installationen von den Bildern schwierig zu trennen sind, man als Betrachter nicht weiß wo das eine aufhört und ob das andere noch dazugehört.
Pepa Salas Vilar hat die Weiße Halle der Eisfabrik zu einem Gesamtkunstwerk gestaltet, einer synästhetischen Inszenierung.
Synästhesie als Ausgangspunkt des Welterlebens der Künstlerin und als ästhetisches Grundprinzip der künstlerischen Po-sition - das ist der erste Zugang.
Der zweite Zugang. Wer sich die Arbeiten anschaut, der wird wiederkehrende Motive entdecken: den Wal, die Feder, das Mädchen, das Boot.
Pepa Salas Vilar arbeitet mit Symbolen. Συμβάλλειν – aus dem Griechischen bedeutet eigentlich: zusammenwerfen, zusammenlegen. Damit der Bote erkannt wird, erhielt er die Hälfte eines Knochens, der Empfänger der Botschaft hatte die andere Hälfte. Legte man beide zusammen, konnte sich der Bote legitimieren. (Sprach)Bedeutung und Gegenstand passen zusammen, dann spricht man heute vom Symbol. Nun ist das mit dem En- und Decodieren so eine Sache. Das einzig eineindeutige Symbol ist die Windhose: sie enthält, auf was sie verweist.
Bei Pepa Salas Vilar ist kein Bett ein Bett ein Bett ein Bett. Kein Ready-Made, kein objet trouvé. Das Bett ist auch das Boot, das losziehen, das Traumschiff, das Floß im Wellenschlag der Träume. Und das Mädchen, steht auch für die Sehnsucht, die Offenheit des Lebens, die Weite des Meeres. Der Wal für das Bergende und Mütterliche und Starke – und zugleich das Bedrohte und Fremde, Wanderung und Migration. Die Feder für das Leichte, Zarte, Nahe und das Verlorene.
In der Installation „Exilgedanken“ zwei Haufen, einer mit Vogelfedern und der andere mit Pepas Haaren gesammelt, verfilzt in neun Jahre; was spinnt sich daraus?
In „Tränen des Meeres“ das Oval aus Schulpen der Tintenfische wie Tränen und zugleich in der Form des Ovals, die uns häufiger begegnet, z.B. in den Portraits ihrer hannoverschen Künstlerfreunde. Karl Möllers[ii] hat geschrieben, dass das Oval den Bedingungen unserer Existenz entspreche. Es entspricht in der Horizontale unserem Gesichtsfeld, in der Vertikalen erweitert es beinahe die zweidimensionale Darstellung in die Dreidimensionalität des Raumes und - in den Portrait-bildern deutlich - wirkt wie ein Spiegel, in den wir schauen und andere sehen.
Muss ich das nun alles wissen um Pepa Salas Vilars Arbeiten zu verstehen? Pepa Salas Vilars Symbolbedeutungen kennen und auswendig lernen um ihre Bilder lesen zu können? Ihre Symbole sind offen. Pepa Salas Vilar gibt keinen eineindeutigen Bedeutungen vor. Sie betont:“Jeder hat sein eigen Lesart“ – darin sind ihre Arbeiten ganz modern. Sie haben, z.B., nichts gemein mit der einerseits mimetischen, andererseits festen Symbolsprache des Mittelalters, die jeder zu lesen meinen glaubt, aber kaum einer ohne Vorwissen entziffern kann. Die ausgestellten Arbeiten sind entschieden modern, sie erlauben das Entdecken aus der Mündigkeit und lebensweltlichen Erfahrung des Betrachters.[iii]
Den Bildern, oft in zwei Tagen gemalt, sieht man in ihrer Komposition die zweiwöchige Planung an. Sie sind entschieden gestaltet und öffnen sich über die Leinwand, der Tafel in den Raum. Jedes Bild ist auch Installation. Umso mehr, wenn Sie in Triptychen gearbeitet, auf einem Bettgestell umgesetzt, auf eine Schaufensterpuppe gemalt sind. Das symbolische Gestalten als zweiter Zugang.
Den Dritten bietet uns der Titel „Zugunruhe“ und ein Symbol, das immer wieder auftaucht: das Boot – leer oder voller Flüchtlinge.
Eigentlich geht es doch nicht, nun auch das Flüchtlingselend künstlerisch umzusetzen, andererseits geht es erst recht nicht, es künstlerisch nicht umzusetzen.
Die Künstler heute sind die Mönche und Nonnen der alten Kirche. Mit ihrer ganzen Existenz stellen sie sich den Versuchungen und Verführungen, den Leiden und dem Glück der Welt. Anders: Leben und Arbeiten fallen existentiell zusammen in der künstlerischen Po-sition.
Deshalb geht es, in diesen Tagen eine Ausstellung mit „Aves Migratorias - Zugunruhe“ zu überschreiben. Es ist der Moment vor dem Losziehen, vor dem Abflug der Wandervögel, vor der Flucht, vor dem Abschied der Migranten aus der alten Heimat. Der Moment des Zauderns und doch Losgehens, des Verlassens und doch etwas von der Vergangenheit mitnehmen, des Freiheitsgewinns und des Sicherheitsverlustes. Diese Bewegung hat vielfältige Kontexte: es sind die maroden Flüchtlingsboote auf dem Mittelmehr mit dem Ziel eines fremden und kalten Europas, wie in der Arbeit „Verstecken wir uns schnell im Schatten des Fluges“ oder „Im Süden der Sahara fliegen die Wale nicht“ oder „Die Tränen des Meeres“, oder „Exilio“ – zwei Paddel im hoffnungsvollen Gold mit Frauenschuhen, deren Ein-lagen aus Geldscheinen, dem Schleuserlohn, bestehen oder der dem Käfig entflohene Jungen, auf golden-hoffnungs-vollem Grund, der mit einem Bein dem Käfig doch verbunden-verstrickt bleibt – wer wird den Käfig seiner Kindheit schon endgültig los? – in der Installation „Desiderare“ – ersehnen. Oder die Kinderpuppen, phrenologisch bemalt die eine, Flamingofreiheit auf der Brust. Der Start vor der Pubertät, die Gefangenschaft in den Gefühlen und die unendlich gefühlte Weite des möglichen Fluges. Aufbruch in vielen Kontexten – aber auch verbunden mit der möglichen Gefahr.
„Acta est fabula“ – zeigt die Hl. Lucia. Der Legende nach verliebte sich ein Jüngling unsterblich in sie. Sie aber wies ihn ab. Daraufhin warf er ihr vor, sich in ihre Augen auf den Tod verliebt zu haben. Da riss sie sich die Augen aus und schickte sie ihm auf einem Teller, woraufhin er bestürzt von seinem Werben um sie abließ. Die Muttergottes aber schenkte ihr noch schönere Augen. Santa Lucia wird die Schutzheilige des Augenlichts und gegen – auch geistige – Blindheit. Ikonografisch wird Lucia mit dem Augen auf dem Teller dargestellt.[iv] Pepa Salas Villar lässt sie ein Flüchtlingsboot halten und auf ihrer linken Schulter warnt das Piktogramm vor der Lebensgefahr beim Schwimmen. Welche Sehnsüchte, Hoffnungen lassen die Flüchtlinge losziehen unter Todesgefahr?
Geht diese Thematisierung der Flüchtlingsnot angesichts der Flüchtlingsdiskussion in diesem Land? Der Zahl der Flüchtlinge? Der AfD-Demos? Brände? Nach und während ihres Kunststudiums in Spanien lebt Pepa Salas Vilar in Italien, Polen und Deutschland. „In einem anderen Land kann man nur eine andere Person sein“, erkennt sie, „in Italien eine andere Pepa als in Polen oder Deutschland“. Die Fremdheit des eigenen Erlebens wird ihr zum Ausgangspunkt. Und gerade dieser subjektive Zugang ist möglich und erlaubt. Michel de Montaigne (1533-1592), der französische Essayist des 16. Jahrhunderts, angefeindet von der kirchlichen Inquisition, bekennt sich zu seiner subjektiven Wahrnehmung und seinem subjektiven, erfahrungsbezogenen Zugang zur Wirklichkeit, keine absoluten Wahrheiten mehr akzeptierend, weil er erkannt hat: „Jeder Mensch trägt die ganze Gestalt des Menschseins in sich“ (E III, 2).[v] Von sich geht die Künstlerin aus, von ihrer synästhetischen Welterfahrung von ihren Freunden, Nachbarn, Verwandten – sie alle tauchen in ihren Bildern auf, um beim anderen, in dessen Welt, im gesellschaftlichen Kontext anzukommen.
Pepa Salas Vilars Arbeiten sind Versuche an sich selbst, die in ihrer Verweiskraft weit über sich hinausweisen. Sie öffnen sich dialektisch der Wirklichkeit. Zwar ist „In lumen sapientia“ im Licht die Weisheit – aber die Nacht und Dunkelheit, die Krise gebiert Kreativität und Neuanfang.
Synästhesie – symbolisches Gestalten – sich aus dem eigenen Standort von der Zugunruhe der Nomadin herausrufen lassen. Drei Annäherungen, drei Zugänge, denen Sie folgen können, oder Eigenes, Anderes, Neues entdecken. Zugunruhe lädt ein zur Reise. Ziehen Sie los.
Wilfried Köpke, Hannover[vi]
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[i] Vernissageeinführung am 09.10.2015
[ii] Jan Christoph Tonigs: Karl Möllers. Oval, Rheine, Edition Kloster Bentlage, 2015, 4-13
[iii] Nach einer häufig geäußerten Position von Markus Brüderlin (1958-2014).
[iv] Albert Christian Sellner: Immerwährender Heiligenkalender, Frankfurt am Main, Eichborn, 1993, 416.
[v] Michel de Montaigne, Essais, Franfurt am Main, Eichborn, 1998, 399